Im Falle eines Sexualdelikts stehen Notfallmediziner oftmals vor einer großen Herausforderung. Zwischen medizinischer Erst-Versorgung, richtiger Befunddokumentation und korrekter Spurensicherung muss jongliert und gleichzeitig ein roter Faden gespannt werden, um die geschädigte Person möglichst zu entlasten und dennoch den Ablauf korrekt einzuhalten. Auch im Nachhinein kann die medizinische Behandlung Folgen haben – und zwar juristisch gesehen.

#1 Die wichtigsten Schritte bei einem Erstkontakt mit einem Missbrauchsopfer

Angefangen bei der medizinischen Erstversorgung sollte eine umfassende Anamnese mit der Intention durchgeführt werden, Mehrfachbefragungen zu vermeiden, um das Opfer vor einer weiteren psychischen Belastung zu schützen. Die Polizei kann in Abwesenheit des Patienten das medizinische Fachpersonal zum eventuellen Tathergang und zu den Umständen, die zur Vergewaltigung geführt haben, befragen. Vertrauliche Patientendaten dürfen allerdings nicht ohne Einverständnis des Patienten weitergegeben werden. Auch sollte die misshandelte Person darüber aufgeklärt werden, dass die Untersuchung primär zur Wiedererlangung des allgemeinen Wohlbefindens und auch zur Aufklärung der Straftat beiträgt. Über mögliche rechtliche Schritte gegen den Täter – eventuell auch gegen Unbekannt – ist hinzuweisen.

# 2 Hilfestellungen bei der Anamnese – darauf kommt es an!

  • Nimm dir die W’s zur Hilfe: Wer, was, wann, wo, wie, wie viele, welche Handlungen?
  • bestehen akute Verletzungen (Schmerzen, Blutungen)?
  • Hat die betroffene Person danach ihre Kleidung gewechselt oder geduscht?
  • Wurden vom Opfer nahe des Tatortes Drogen, Medikamente oder Alkohol konsumiert?
  • Kam es zu einer Ejakulation oder sonstigem Sekretaustausch seitens des Täters?
  • Wann war die letzte Menstruation und besteht die Möglichkeit einer Schwangerschaft?
  • Wurde verhütet?

#3 Die körperliche Untersuchung

Sorge hier unbedingt für eine möglichst ruhige Atmosphäre und wenn möglich, für eine kurze Wartezeit. Um dem Opfer nicht das Gefühl zu geben sich erneut entblößen zu müssen, weise das Entkleiden nur partiell für die Körperstellen an die du gerade untersuchen möchtest. Das Einverständnis für die Untersuchung und Sicherstellung sowie die Weitergabe von Beweismitteln sollte eingeholt werden.
Schwerwiegende Verletzungen sollten sofort behandelt werden. Wenn möglich, sollten diese fotografisch festgehalten werden. Eine Übersichts- und Detailaufnahme mit Maßstab ist von Vorteil.
Zu untersuchende Körperstellen
Bitte achte immer darauf, auch verdeckte Körperstellen zu untersuchen. Du könntest hier Verletzungen auf der Kopfhaut oder im Mundbereich finden. Achte auf Anzeichen für Frakturen, Verbrennungen und Verätzungen, um starke Verletzungen auszuschließen.
Kolposkopie bzw. Vaginoskopie und Ultraschall
Neben der allumfassenden Inspektion hilft dir die Kolposkopie, um mögliche Verletzungen im inneren vaginalen Bereich zu beurteilen. Ein Ultraschall kann hier die gynäkologische Diagnostik unterstützen.
Extragenitale Verletzungen
Zwei Drittel der Vergewaltigungsfälle weisen extragenitale Verletzungen auf. Hier ist zu erwähnen, dass das Festhalten dieser Verletzungen juristisch gesehen den Tathergang zu Gunsten des Opfers bestätigt.
Prophylaxe für sexuell übertragbare Krankheiten 
Bei einer unzureichenden Immunisierung des Opfers sollte eine Impfung gegen Tetanus und Hepatitis B vorgenommen werden. Auch eine Postexpositionsprophylaxe gegen HIV sollte bei Bedarf vorgenommen werden. Die Behandlung muss unmittelbar nach der Besprechung beginnen, um die Wirksamkeit garantieren zu können.

#4 Befund- und Spurensicherung

Wenn du deinen Patienten nicht an weitere Fachärzte überweist, denke immer daran die Befundsicherung weitestgehend einzuhalten. Biologische Spuren solltest du nur dort sicherstellen, wo Sekretrückstände zu erkennen sind und das Opfer sie vermutet. Die Probenentnahme sollte innerhalb von 72 Stunden nach dem Tathergang erfasst werden. Vergiss bitte nicht die korrekte Dokumentation inkl. Personalien, Datum und die Lokalisation der entnommenen Proben.
Tipp: Die Entnahme von trockenen Substanzen erfolgt mit einem sterilen, aber leicht angefeuchteten Wattestieltupfer. Dieser muss nach der Entnahme getrocknet werden, weil sonst die DNA-Analyse nicht verwertbar ist. Findest du feuchte Spuren, entnimm diese mit einem trockenen Tupfer und lasse diesen auch hier im Anschluss trocknen. Nimm wenn möglich, eine Blut- und Urinprobe um Betäubungsmittel-, Medikamenten-, oder Alkholkonsum auszuschließen.

#5 Psychologische Erste Hilfe – Krisenintervention in der Notfallmedizin

Durch ein kritisches Lebensereignis wie eine Vergewaltigung kommt es bei deinem Patienten zu einer erhöhten psychischen Labilität und somatischer Reaktionsbereitschaft bis zu manifesten psychopathologischen Symptomen.
Bei einer Vergewaltigung handelt es sich um eine situative Krise, die beim Betroffenen eine Schockreaktion auslöst. Das innere Chaos sorgt für Verleugnung, Verdrängung, Apathie oder eine völlige Lähmung. Dysphorische Gefühlsausbrüche können die Folge sein. Die betroffene Person sollte in einer zeitlich limitierten Intervention die psychophysiologische Anspannung loslassen und unmittelbar stabilisiert werden.

4 Phasen einer Krisenintervention (Das BELLA-Konzept)

  1. Beziehung aufbauen: Schaffe eine angemessene Beziehung zu deinem Patienten, um mit ihm gemeinsam auf Augenhöhe notwendige Maßnahmen beschließen und durchführen zu können.
  2. die Situation erfassen: Verschaffe dir einen Überblick über den Auslöser der Krise und über weitere Faktoren (Drogenkonsum, Krankheiten, Belastungen). Wie stark oder schwach sind die Bewältigungsressourcen ausgeprägt? Besteht eine akute Suizidalität oder Fremdgefährdung?
  3. Linderung der Symptome: Starke negative Emotionen überfluten den Betroffenen. Die massive psychische und emotionale Anspannung soll reduziert werden. Oft sind eigene Ressourcen im Schockzustand nicht gut abrufbar; nachdenken und gezieltes Handeln sind schlecht realisierbar. Hierbei kannst du deinem Patienten helfen, indem du ihn zum Beispiel dazu ermunterst, ausführlicher über das Geschehen zu erzählen und ihm dabei hilfst, die richtigen Worte zu finden.
  4. Unterstützende Menschen und Faktoren miteinbeziehen: Das eine greift ins andere über. Versuche hier Faktoren zu finden, die deinem Patienten dabei helfen das Erlebte besser bewältigen zu können. Hier sollte erneut die psychopharmakologische Behandlung erwähnt werden, wenn dein Patient das Bedürfnis von Ruhe und Schlaf äußert.

Zum Abschluss solltest du nochmal deine Einschätzung im Bezug auf Selbst- und Fremdgefährdung walten lassen. Im Normalfall ist mit einer Krisenintervention der Fall nicht abgeschlossen. Verweise hier auf zuständige (regionale) Stellen für solche Fälle und erwähne die psychotherapeutische Behandlung. Lässt sich die Krise nicht im vorgesehenen Zeitrahmen und mit den zur Verfügung stehenden Mitteln managen, bedarf es einer Weiterleitung in stationäre Behandlung.
akute Krise

Fazit

Abschließend ist zu sagen, dass es keine pauschalisierten Lösungen gibt. Die Situation, Persönlichkeit von Opfer und des zuständigen Arztes und bisherige Erfahrungen werden bunt zusammengewürfelt. Psychische Krisen erschweren den Einsatz in der Notfall- und Rettungsmedizin. Um die bestmögliche Hilfe bei akuten psychischen Krisen zu gewährleisten, empfiehlt es sich regelmäßig ACLS-Kurse wahrzunehmen. Ärzte der Notfallmedizin sollten immer auf dem aktuellen Stand für psychiatrische Symptome, psychopharmakologische Akutbehandlungen und Interventionsmöglichkeiten bei Krisensituationen sein.
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