Du wirst als Notarzt zu einem schweren Verkehrsunfall gerufen. Vor dir liegt ein Mensch mit einer offenen Kopfverletzung.
Bei der genauen Untersuchung stellst du zudem schwere Verletzungen des Brustkorbes fest. Schnell wird klar: es handelt sich um ein schweres Polytrauma.
Wie du als Notarzt vor Ort guideline-konform reagierst und wie der weitere Behandlungsverlauf bei Polytraumen aussieht, haben wir für dich in diesem Beitrag zusammengefasst.

#1: Zuerst die graue Theorie

In der Medizin spricht man von einem Polytrauma, wenn mindestens 2 Körperhöhlen (z.B. Brust und Abdomen) schwer verletzt sind und mindestens eine oder mehrere Verletzungen in Kombination für den Patienten lebensbedrohlich sind.
Polytraumen sind keine Seltenheit. In Deutschland verletzen sich jährlich rund 38.000 Menschen lebensbedrohlich.
Häufigste Ursachen sind Verkehrsunfälle und Stürze aus mehr als 3 Metern Höhe.
Verletzungen erleiden die Patienten dabei meistens am Schädel, im Brustraum und an den Extremitäten. Es kann aber auch zu schweren Bauchverletzungen kommen.

#2: Präklinische Versorgung bei Polytrauma

1) Absicherung des Unfallortes: Je nach Situation (Verkehrsunfall, Sturz am Bau) musst du als erstes den Unfallort absichern, um dein eigenes Leben nicht zu gefährden.
Falls dein Patient aufwändig geborgen werden muss, verständige am besten immer die Feuerwehr und die Polizei. Oft werden die ja von der Leitstelle automatisch mit-alarmiert.
2) Mache dir ein genaues Bild der Lage mit Hilfe des ABCDE-Schemas:
Hier weisen wir darauf hin, dass es heutzutage sehr viele unterschiedliche Ansätze zur Versorgung von Polytraumen gibt. Je nach Schule (PHTLS, ITLS, ATLS, ERC, AHA usw.) stehen dir dazu unterschiedliche Zugangswege zur Verfügung. Ein bewährtes und für die meisten Notärzte einfaches Schema, das wir hier beschreiben möchten, ist das ABCDE-Schema (engl. ABCDE Approach).
Hierbei handelt es sich um eine Strategie zur Untersuchung und Versorgung von kritisch kranken und schwer verletzten Patienten.

  • A steht für Airway (Atemweg): Überprüfe, ob die Atemwege frei sind.
  • B steht für Breathing (Beatmung): Prüfe, ob dein Patient atmet und beurteile die Atemqualität (schnell, oberflächlich usw.)
  • C steht für Circulation (Kreislauf): Überprüfe den Kreislauf. Wie hoch ist der Blutdruck? Gibt es Anzeichen für Dehydrierung? Wie fühlt sich das Abdomen an? Befindet sich freie Flüssigkeit im Bauchraum? Ist der Puls an beiden Armen gut tastbar?
  • D steht für Disability (neurologisches Defizit): Überprüfe die neurologischen Funktionen. Wie sehen die Pupillen aus? Wenn eine weiter als die andere ist, handelt es sich oft um ein Schädelhirntrauma (trifft in 60% der Fälle zu). Wie ist die Bewusstseinslage?
  • E steht für Exposure (Exploration): Wenn möglich, untersuche den gesamten Körper deines Patienten komplett entkleidet. Überprüfe dabei die Stabilität der Körperregionen: Ist die Brust stabil, wenn du auf den Brustkorb drückst? Sieh dir die Extremitäten an. Gibt es offene Brüche an Armen oder Beinen? Hat der Patient Schmerzen? Wie schaut der Bauch aus? Ist das Becken stabil?

Achtung: Bei Verdacht auf Beckenfraktur wird es zum Teil nicht gerne gesehen, wenn du das Becken zur Überprüfung stark mobilisierst! Also handle stets kritisch bei der Untersuchung. Denn alleine durch die Mobilisation des Beckens kann es zu inneren Blutungen kommen.
Wie gesagt, wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass es neben dem ABCDE-Schema noch andere Schulen (wie PHTLS, ATLS und ITLS) gibt.
Dieser Beitrag ist jedoch nicht nur für Trauma-Spezialisten geschrieben, daher verzichten wir auf die Vertiefung der anderen Schulen.
Ziel dieser Erstbehandlung ist es, nur die unmittelbar lebensbedrohlichen Verletzungen zu behandeln und den Patienten möglichst schnell lebend in eine große Klinik zu bringen.

ABCDE-Approach im Video anschaulich erklärt:

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Achtung: 3 mögliche Komplikationen am Unfallort, die für deinen Patienten tödlich sein können

Ob du dabei deinen Patienten so schnell wie möglichst in die nächste größere Klinik bringen kannst (Load and go) oder deinen Patienten vorerst am Unfallort stabilisieren musst (Stay and play), musst du je nach Situation entscheiden:
1) Verlegte Atemwege: Falls die Atemwege verlegt sind, musst du versuchen, diese zu öffnen. Denke in diesem Fall über eine Intubation nach. Aber immer nur dann, wenn du dir die Intubation auch zutraust. Für eine gelungene Intubation haben wir dir 6 Tipps und Tricks zusammengefasst. Klicke einfach auf den nachfolgenden Link, um zum Beitrag zu gelangen: https://simulationcenters.com/6-tipps-tricks-so-gelingt-dir-die-intubation/
2) Spannungspneumothorax: Sollte dein Patient an einem Spannungspneumothorax leiden, musst du diesen erkennen und sofort behandeln. Ansonsten könnte dein Patient daran schnell versterben. Je nach Anfahrtsweg in die nächste Klinik und Symptomen deines Patienten musst du dir überlegen, ob du den Pneumothorax noch an der Unfallstelle entlasten möchtest. Dazu solltest du jedoch die Thoraxdrainage nach Bülau oder Monaldi beherrschen. Wie das geht, kannst du in unserem Atemwegssymposium am Tierkadaver ausgiebig üben.
3) Starke Blutungen: Starke Blutungen können schnell lebensbedrohlich werden. Bei starken Blutungen der Extremitäten solltest du an eine Tourniquet-Anlage denken. Bei Verdacht auf inneren Blutungen (bretthartes Abdomen) kannst du präklinisch nicht viel bewirken. Denke an Load and go, denn nur eine Not-Laparotomie kann deinen Patienten retten.
Achtung vor exzessiver Flüssigkeitstherapie am Unfallort: Seit Jahren werden Flüssigkeitstherapien in der Literatur bei schweren Blutungen kontrovers diskutiert. Es gibt Autoren, die zu recht befürchten, dass durch die Gabe von großen Mengen an Flüssigkeiten Blutgerinnungsfaktoren verdünnt werden und daher innere Blutungen geradezu forciert werden.
Daher unser Tipp an dich: Wenn du Volumen brauchst, dann setze es kritisch ein! Eventuell sogar in Kombination mit einem leichten Vasopressor. Die AHA empfiehlt in diesem Fall einen Flüssigkeitsbolus von 20 ml pro kg Körpergewicht.

#3: Innerklinische Behandlung

Nachdem du deinen Patienten am Unfallort erstversorgt hast, musst du als Notarzt entscheiden, wohin der Patient transportiert wird. Idealerweise natürlich in ein Traumazentrum. Dort erfolgt die Behandlung in 3 Phasen:
1) Versorgung im Schockraum: Im Schockraum wird der Patient genau untersucht und nach dem Schockraum-Algorithmus behandelt.
Bei mehreren schweren Verletzungen muss interdisziplinär entschieden werden, was zuerst operativ versorgt werden muss. Treat first what kills first! Das heißt: Behandle die tödlichste Bedrohung zuerst! Zum Beispiel: eine schwere Schädelblutung hat vor einer offenen Unterschenkelfraktur Vorrang.
2) Operation lebensbedrohlicher Verletzungen: Nach der Erstversorgung im Schockraum erfolgt im OP die Behandlung lebensbedrohlicher Verletzungen und die weitere Stabilisierung durch den Anästhesisten.
3) Intensivtherapie: Nachdem alle lebensbedrohlichen Verletzungen operativ erstversorgt wurden, erwartet polytraumatisierten Patienten sehr oft langwierige Intensivaufenthalte.

Fazit: Beim Polytrauma geht es oft um das „nackte“ Überleben

Wie du in diesem Beitrag gesehen hast, sind Polytraumen keine Seltenheit. Wenn du als Notarzt zu einem Polytrauma gerufen wirst, ist dein primäres Ziel, die unmittelbar lebensbedrohlichen Unfallfolgen zu behandeln.
Dazu stehen dir verschiedene Wege zur Verfügung. Als Beispiel haben wir dir das ABCDE-Schema beschrieben.
Wichtig ist dabei, deinen Patienten nach der Erstversorgung so schnell als möglich in eine geeignete Klinik (Traumazentrum) zu bringen. Entscheidest du dich als Notarzt für die falsche Klinik, kann das deinem Patienten wertvolle Zeit oder sogar sein Leben kosten.
Wie du in solch einem Ernstfall guideline-konform und vor allem sicher reagierst, kannst du bei uns im ACLS-Kurs lernen. Klicke dazu einfach auf den nachfolgenden Link oder auf den roten Button: https://simulationcenters.com/mediziner/als-kurs/
Ja, ich will Polytrauma-Notfälle üben!
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